Dada wird begraben. Dada lebt!


Am 5. Februar 1966 zog, begleitet von scheppernder Blasmusik, eine ausgelassene Menge durchs Niederdorf zur Spiegelgasse 1. Stapi Emil Landolt persönlich enthüllte an der Hausmauer einen gelben «Nabel der Welt» - eine vom Künstler Hans Arp entworfene Gedenktafel, die an die Eröffnung des «Cabaret Voltaire» fünfzig Jahre zuvor erinnerte. Aus den umliegenden Fenstern regnete es grüne Papierschnitzel, auf denen geschrieben stand: «Die Schweiz ist Dada.»

  Drohender Umbau

Am vergangenen Samstag zog wieder eine Menge, angeführt von Strassenmusikanten, zur Spiegelgasse 1. Mann und Frau trugen schwarzen Frack und weisses Kleid, Gläser klirrten, und Häppchen wurden gereicht. Dann wurden die Türen des Hauses geöffnet, in dem die Dada-Bewegung ihre Geburtsstunde gefeiert hatte - und zur wichtigsten Kunstbewegung wurde, die im letzten Jahrhundert in Zürich ihren Ursprung hatte.

1916 trafen sich hier Emigranten wie Hugo Ball und Hans Arp. Ein paar Häuser weiter, in Nummer 12, wohnte Lenin, der - so die Legende -, genervt vom Krach der Dadaisten, die Polizei herbeirief. In der jüngeren Vergangenheit waren hier Lokale wie das «Castel Pub» oder das «Nachtcafé» beheimatet, zuletzt stand das Gebäude über ein Jahr leer. Die Rentenanstalt, der das Haus gehört, will demnächst umbauen: Im Erdgeschoss soll eine Apotheke einziehen, in den Etagen darüber sollen drei Luxuswohnungen entstehen.

Nun hat ein Kollektiv von Zürcher Kulturschaffenden das Haus besetzt, bis zum Beginn des Umbaus wollen sie darin eine «Zwischennutzung» betreiben: «Dada soll wiederbelebt werden», schreiben sie in einer Mitteilung, «wir bedauern, dass die Stadt Zürich das Haus beim letzten Besitzerwechsel nicht gekauft hat, um es zu renovieren und Dada endlich den Raum zu geben, den er verdient.» «Du da solltest ehren statt entleeren», heisst es auf einem Transparent über dem Eingang. An die Hausecke ist ein Plakat der Kunsthaus-Ausstellung «Dada siegt global» von 1994 geklebt, im Wind flattern drei Fahnen, die eine vergrösserte Ansicht der 50-Franken-Note mit dem Porträt von Sophie Taeuber-Arp zeigen.

«Wir wollen hier ein offenes Haus schaffen», sagt ein Mitglied des Kollektivs. Eine Bar und eine Bühne gibt es schon, bald sollen Ausstellungsräume entstehen, aber auch Ateliers, «weil die Ateliersituation in Zürich momentan katastrophal ist - es gibt keine mehr». Einen Ort der «permanenten Transformation» plant man, welcher der «Literatur und Kunst» gewidmet ist und «Duda» getauft wurde. Täglich um 19 Uhr kann die Weiterentwicklung an einer öffentlichen Vernissage besichtigt werden.

Am Dienstag wurde der 86. Jahrestag der «Cabaret Voltaire»-Eröffnung gefeiert. «Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt», hiess es damals. «Wir wollen die Welt mit nichts ändern», heisst es heute. Zur Eröffnung wird dreistimmig, vielsprachig und rhythmisch ein Text vorgetragen, den einst Marcel Janco, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck am selben Ort uraufgeführt haben: ein Stück Moderne.

  Mitternachtsmesse

Dann folgen Lesungen und in den Raum geworfene Poetry. Der Slam-Bob «Team Winterthur» - zwei Frauen, ein Mann - präsentiert treffende Betrachtungen und Befindlichkeiten rund um Geschlechterrollen, den letzten Herbst und darüber hinaus. Später lässt der Slam-Poet Etrit die Wörter wirbeln und ineinander beissen: politisch, satirisch und empirisch. Am Ende zelebriert ein Berliner «Pastor» eine Mitternachtsmesse für «Dada, du da, du zahnloser Rentner» und betet zusammen mit dem Publikum ein «Mutterunser in der Herde». Inmitten des Abends auch ein Moment der Stille: Im Gedenken an die am Samstag verstorbene Schriftstellerin Aglaja Veteranyi liest eine Frau mit ruhiger Stimme fünf kurze Texte der Autorin, darunter «Die Fremde».

«Worte tauchen auf, Schultern von Worten; Beine, Arme, Hände von Worten. Au, oi, u», hiess es im «Dada-Manifest». An diesem «Duda»-Abend bringen einem Wörter zum Lachen und zum Nachdenken: Sätze, die wie Lupen funktionieren, die Dinge vergrössern, lustig oder schrecklich verzerren, aber auch zum Brennen bringen. «Wir brauchen keine Apotheken, wir brauchen Räume!» ruft es irgendwann von der Bühne. Dada lebt, die Sprache ebenso. Zürich kann sich auf dadaistische Zeiten freuen.

tagesanzeiger, 7.2.2002


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