Dada-Aktionstag: Kunst zum Anfassen


Auch die Buchhandlung Orell Füssli Krauthammer im Niederdorf hat die Zeichen der Zeit erkannt: Ein ganzes Schaufenster hat sie mit Büchern zu Dada, Marcel Duchamp und Sophie Taeuber-Arp dekoriert. Dokumente einer Bewegung, die ein paar Häuser weiter gerade wiederbelebt wird. Seit Anfang Februar ist das Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse im Niederdorf besetzt und hat sich in dieser kurzen Zeit zu einem vielfältigen und überaus lebendigen Kulturort entwickelt. Am nächsten Montag soll Schluss mit dem Experiment sein, dann will die Besitzerin der Liegenschaft, die Rentenanstalt, mit dem Umbau beginnen. Deshalb wurde der Sonntag zum grossen Dada-Aktionstag erklärt.

Bereits am Samstag lud das andere besetzte Kulturhaus, das egocity an der Badenerstrasse, zum Happening. Zusammen mit den benachbarten Häusern, dem so genannten Viereck, wurde ein Quartierfest veranstaltet. Der Verein Viereck und das egocity wollten damit einer breiteren Öffentlichkeit ihren Protest gegen das geplante Neubauprojekt näher bringen. Während am frühen Nachmittag Stadträtin Monika Stocker, selbst Bewohnerin des Vierecks, am Grill vorbeispazierte, machte sich eine Gruppe, deren Mitglieder sich hinter Elmar-Ledergerber-Masken versteckten, daran, die Baugespanne und -tafeln des geplanten Neubaus zu demontieren. "Man wolle", so eines der Mitglieder, "damit gegen die Baupolitik der Stadt Zürich protestieren." Mit zahlreichen Konzerten, Bars und Discos dauerte das Quartierfest bis spät in die Nacht und ging so fast nahtlos in den Dada-Aktionstag über. Ab 14 Uhr konnten Interessierte beim Cabaret Voltaire einen Stadtplan abholen, auf dem diverse Punkte in der Innenstadt markiert waren, an denen Performances stattfanden. Neben dem Stand kniete ein nur mit einer goldenen Unterhose bekleideter Mann und rief: "Die Blume kommt aus dem Pflaster!" "Ist das auch ein Künstler?", fragte ein Passant.

Joints im "Sprüngli"

"Kunst zum Anfassen" hatte der Flyer zum Aktionstag versprochen - und ähnlich interventionistisch gestalteten sich auch die übrigen Aktionen: Neben dem Stadthaus konnte man mit Wasserfarben gefüllte Eier auf Papierbögen werfen, die danach auf dem Trottoir ausgestellt wurden. Etwas weiter flussabwärts angelten zwei Männer Papierfische aus der Limmat. Im "Sprüngli"-Café wurden Joints geraucht, Champagner bestellt und Ostereier bemalt. Und auf der Quaibrücke füllte einer auf einem langen Tisch Gläser mit Milch, Wasser und Wein, um anschliessend - gespannt verfolgt von einer vielköpfigen Menge - den Kopf im Tischtuch zu vergraben und alle Gläser über sich auszuleeren. Um 17 Uhr zogen die selbst ernannten "Erben Dadas" dann zum Hauptsitz der Rentenanstalt, deponierten dort die Werke des Nachmittags - so auch Ostereier zur Kunst am Bau und auch 150 Franken in 20-Rappen- Stücken: "Ein erstes symbolisches Kaufangebot." "Da leider kein Vertreter der Rentenanstalt anwesend ist", erklärte ein Sprecher, "betrachten wir den Deal als gemacht." Kaum war die 70-köpfige Schar wieder abgezogen, tauchten vier Streifenpolizisten auf und besahen sich derart ratlos den Tatort, dass es fast schon wieder eine neue dadaistische Performance war.

Stadt Zürich spielt auf Zeit

Fürs nächste Wochenende sind weitere Aktionen und ein "Sleep-in" an der Spiegelgasse angekündigt. Doch ob dann die Umbautruppen an der Spiegelgasse aufmarschieren, bleibt unklar. Die Stadt möchte, laut Jean-Pierre Hobby vom Zürcher Präsidialdepartement, Zeit gewinnen und eine einvernehmliche Lösung finden. Am Sonntagabend teilten dann die Jungsozialisten mit, dass eine Einigung zwischen den Besetzern und der Rentenanstalt kurz bevor stehe.

tagesanzeiger, 25.02.02


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