Dada. Dada!


Vor zwei Wochen haben «Künstler» in der Altstadt das Haus besetzt, in dem 1916 das «Cabaret Voltaire» gegründet wurde. Mit einem experimentellen Programm wollen sie das kulturelle Erbe der Dadaisten antreten. Nicht zur Freude der Hauseigentümer.

So eine Messe hat Zürich noch nie gesehen. Mit Inbrunst in der Brust und Bier in der Hand singen rund 60 Gläubige die «Kanone 31»: «Schluss mit dem Sonnensystem, wozu ist es dunkel - Menschheit, du bist ein Ekzem, schunkel, schunkel, schunkel.» Priester Leumund aus Berlin ist überwältigt vom Engagement seiner Schweizer Gemeinde. «Das muss mit dem Ort zu tun haben», mutmasst er.

Im Haus Ecke Münstergasse 26 / Spiegelgasse 1 hatte Hugo Ball mit befreundeten Künstlern am 5. Februar 1916 inmitten der Kriegswirren das «Cabaret Voltaire» eröffnet und damit das (freilich brüchige) Fundament der dadaistischen Bewegung gelegt. Auf dem Ölgemälde «Cabaret Voltaire» (1916) von Marcel Janko sind zu erkennen: Hugo Ball, Emmy Hennings, Friedrich Glauser, Tristan Tzara, Hans Arp. Kurze fünf Monate wurde an der Spiegelgasse gefeiert und vorgelesen, getanzt und vorgespielt. In den folgenden Jahrzehnten hatte das Haus verschiedene Mieter, zuletzt die Bars «Castle Pub» und «Nachtcafé».

Vor einem Jahr kaufte die Rentenanstalt die Liegenschaft mit dem Plan, die Wohnungen zu sanieren und im Erdgeschoss ein Verkaufslokal einzurichten. Am 2. Februar 2002 ist das Haus besetzt worden.

Geschichtsbewusste Besetzer

Dass ausgerechnet das Haus an der Spiegelgasse besetzt wurde, ist kein Zufall. Hier geht es gemäss den Besetzern nicht allein ums kostenlose Wohnen. Vielmehr soll durch ein kulturelles Programm die Zürcher Dada-Tradition aufleben. «Wir definieren uns dadurch, dass wir etwas machen», meint der Besetzer und Künstler Söhnlein Brilliant. Da wird eine Kontinuität sichtbar: Bereits im besetzten Haus an der Badenerstrasse stand auf einem Transparent «Taten statt Tüten». Und dann ist da noch der besagte Hugo Ball, der 1916 über sein «Cabaret Voltaire» schrieb: «Willkommen sollen alle sein, die - etwas leisten.»

Was leisten die Besetzer an der Spiegelgasse? Dada. Für den NZZ-Journalisten von 1916 war Dada ein «Symbol für alles . . .

Für Hass und Liebe, Gut und Böse, für Hoch-, Tief-, Un-, Stumpf-, Irr-, Wahn- und Blödsinn» (NZZ 17. 7. 16). Im Jahr 2002 heisst das Motto an der Spiegelgasse «Nonsens ist Konsens»: Mittwoch ist «Wortsport» (Lesungen, Gedichte), Donnerstag «Zuspätschau» (offene Bühne, Anmeldung bis 18 Uhr), Freitag «Eingeborenes» (Schweizer Hip-Hop), Samstag «akustisches Feng Shui» (Skulptur und Akustik) und die besagte «Mitternachtsmesse». Für den sonntäglichen Ballabend schliesslich suchen die Besetzer einen Paartanz, der noch erfunden werden soll. Für die Künstler gilt, was Hugo Ball 1916 schrieb: «Als ich das Cabaret Voltaire gründete, war ich der Meinung, es möchten sich in der Schweiz einige junge Leute finden, denen gleich mir daran gelegen wäre, ihre Unabhängigkeit nicht nur zu geniessen, sondern auch zu dokumentieren.»

Ein zweiter Dada-Frühling?

Die Besetzer stellen zudem Forderungen: Das Haus soll als Geburtsstätte des Dadaismus von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt werden. Sodann verlangen die Besetzer von der Stadt Zürich eine Million Euro als Gegenleistung für den Aufbau des Hauses als «gelebte Skulptur» mit Künstlerwohnungen, Ateliers, Bühne und Bar. Am ersten internationalen «Dada-Festival» soll das Geld dann sprichwörtlich als Kunst-Performance «aus dem Fenster geworfen werden». Die Steuergelder würden also nicht «versickern», sondern auf den Rappen zurückverteilt werden. Mit diesen Ambitionen beginnen selbstredend die Probleme. Die Rentenanstalt will die Besetzer nur bis zu Baubeginn in rund zwei Monaten dulden.

Es stellt sich die Frage, was Zürich aus seinem weltweit bekannten dadaistischen Erbe gemacht hat. Ein holländischer Besetzer bemerkt lapidar: «Die ganze Welt weiss von Dada, nur Zürich nicht.» Damit stösst er beim 87-jährigen Dada-Sammler und -Kenner Hans Bolliger auf offene Ohren. Während die Politik die Zürcher Konkreten laut Bolliger stets gefördert habe, sei am Dadaismus Verrat begangen worden. Ein zweiter Dada-Frühling, der eher eine Bewegung als etwas Gegenständliches darstellen müsste, könne Zürich durchaus neue kulturelle Impulse jenseits der hoch subventionierten Häuser geben.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Zürich und Region, 16. Februar 2002, Nr.39, Seite 47


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