Ein Sprung ins Grosse, Dunkle


Von Philipp Anz und Dominik Dusek

Schon ein Blick durch die Fenster verspricht Seltsames: Fünf Herren in veralteten, aber durchaus stilbewussten Anzügen spielen da in einem Wohnzimmer Zigeunerjazz à la Django Reinhardt. Hier, an der Plattenstrasse 32 in Zürich-Hottingen, soll am Freitagabend eine Pressekonferenz zur Bekanntgabe der zweiten Dada-Festwochen stattfinden. Kurz zur Erinnerung: Vor einem Jahr wurde das Cabaret Voltaire im Niederdorf besetzt und die ersten Festwochen ausgerufen; am 5. Februar 1916 war an der Spiegelgasse die Dada- Bewegung entstanden.

Einigermassen angetan also betritt man den opulent ausgestatteten Ort des Geschehens. Eine Bar mit angeblich nur skandinavisch sprechendem Dienstpersonal ist da, ein Zimmer mit bunt schillernden Papierkristallen und eines mit flächendeckend an die Wände genagelten Büchern. Am buntesten jedoch geht es in der Eingangshalle zu: ausgestopfte Tiere, chinesische Fächer, dazwischen immer wieder grossformatige Demo-Fotos, gerahmt wie alte Ölschinken.

Eine Pressekonferenz, so lehrt die Erfahrung, sieht anders aus. Und tatsächlich: Zwei Stunden lang ist legerer Zeitvertreib angesagt, plaudern, trinken, Zigeunerjazz hören. Auffällig ist jedoch die völlige Absenz des Wortes Dada. Als «Wiege des Wegismus», sogar des «Wegwegismus», wird Zürich auf Schildern bezeichnet, sonst nichts. Schliesslich gibt es Klartext: Das Gelände für die zweiten Dada-Festwochen werde soeben besetzt, es handle sich um die Papierfabrik an der Sihl. Eine Liveübertragung der Besetzung wird angekündigt, der Zeiger steht auf 22 Uhr. Auf einem Fernseher sieht man in Grün-Weiss schemenhafte, maskierte Gestalten, die über Mauern klettern und in unwirtliche Säulenhallen eindringen. Eine Frau spricht direkt in die Kamera: «Bald hämmer Strom. S isch so geil! Chömed alli!» Alles ist gefälscht.

Zur gleichen Zeit nämlich auf dem Gelände der ehemaligen Sihlpapier-Fabrik vis-à-vis der Saalsporthalle: Das Licht brennt schon seit 21.30 Uhr, die Bar ist eingerichtet, aus den Lautsprechern pumpen Hip-Hop-Beats. Zirka zweihundert Menschen inklusive Kinder und Hunde stehen herum, ein bisschen verloren in einem riesigen Industrie-Areal, aber mit gespannter Erwartung. Die Menge wird immer grösser, kurz vor Mitternacht passiert etwas: Ein schwarz gewandeter Slam-Poet ergreift das Mikrofon und meint: «Säged Jaja!» Vielstimmig ist die Antwort, dann: «Säged Dada!» Irritiertes Schweigen. Kurz danach beginnt das Konzert des Berner Rappers Greis, die Leute beginnen zu schwofen.

Hämmern und Sprayen

Derselbe Raum am nächsten Nachmittag: Es wird gebaut, eine Bühne ist am Entstehen. Nebenan warten schön aufgereiht gemalte Hinweisschilder: «Infocenter», «Medialab», «Bühne», «Museum», «Stop!», «Halt!» usw. Alle Leute, denen man begegnet, sind am Hämmern, Schleppen oder Sprayen. Irgendwo steht ein grosser Tisch mit Frühstückresten. Dahinter ein Raum mit einem Bücherregal und vielen alten Büchern. Ein Griff fördert Interessantes zu Tage. Im «Rückblick und Ausblick 1942» der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt befindet sich ein Buchzeichen - beim Kapitel «Ein Sprung ins Dunkle». Zufall? Kunst?

Mit Sicherheit kein Zufall ist die Wahl des Festivalorts. Die ehemalige Papierfabrik an der Sihl steht im Moment leer. Auf dem Areal soll das Einkaufs- und Freizeitzentrum Sihlcity mit 100 000 Quadratmeter Nutzfläche entstehen. Im Sommer will die Karl Steiner AG mit dem Bau beginnen, die Eröffnung ist für 2006 vorgesehen (vgl. TA vom 29. 1.).

Samstagabend: Die Party geht weiter. Hinter der Bar drehen sich schon selbst gezimmerte, elegante Flaschenständer, ein paar Sitzmöbel stehen herum, die Bühne ist offensichtlich funktionstüchtig. Trotzdem kann man ahnen, welche immense Arbeit noch notwendig sein wird, um die Kultur der schieren Grösse der Fabrikanlage anzupassen. Im Gegensatz zum Freitag wird ein symbolischer Eintrittspreis verlangt, im Publikum fehlen die jungen Hip-Hop-Fans, die tags davor mit Begeisterung dabei waren.

Musik und theatrale Aktionen wechseln einander ab, einmal lassen Mini Metal hinter Leintüchern versteckt die Gitarren krachen, danach tanzen zwei Frauen in Cheerleader-Manier zu Fernsehbildern. Zwei Herren, mit Klebeband auf Stühlen befestigt, geben eine beeindruckende, zwischen Spass und Gewalttätigkeit schwankende Stimmperformance ab. Aber erst als die Zürcher Rapperin Big Zis mit DJ Mad Madam ihr Konzert beginnt, wird die Stimmung wirklich frenetisch. Es ist halb zwei Uhr morgens, die Fabrikhalle ist nun dicht gefüllt, und die Menge tobt. Die Fabrik wird Schritt für Schritt erobert, der Februar verspricht, ein spannender Monat zu werden. Die zweiten Dada-Festwochen mit Künstlern aus vielen europäischen Ländern dauern noch bis 1. März.

[squat!net]


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