Hauptsache, jetzt ist Ruhe


In kaum einer anderen Stadt sind so viele Häuser besetzt wie in Genf, doch nicht einmal die Polizei sieht darin wirklich ein Problem


Genf, Ende Januar û Die Nummer Sechs an der Rue Pre-Naville ist schon lange kein Haus wie die anderen mehr. Das Treppenhaus ist bemalt, die Briefkästen sind demoliert, auf den Treppenabsätzen steht Gerümpel, im Lichtschacht baumeln Weihnachtskugeln. Hier wohnen illegale Besetzer û und zwar seit 19 Jahren. "Es ist das am längsten besetzte Haus in Genf", sagt der 21jährige Raul, der die Pforte zur hauseigenen Bar im Erdgeschoß öffnet. In 14 Wohnungen leben Arbeitslose, Lohnempfänger und Studenten. Haus Nummer 6 ist eines von 125 besetzten Häusern in Genf, in denen 2000 meist junge Leute wohnen.

In Genf hat eine ungewöhnliche Toleranz gegenüber Hausbesetzern Tradition, gewaltsame Räumungen und Krawalle werden vermieden. Die "Squatters", wie die Hausbesetzer hier genannt werden, müssen sich aber an Spielregeln halten: Die Besetzer müssen ein Haus freiwillig räumen, sobald der Eigentümer einen von den Behörden genehmigten Renovierungsplan vorlegen kann. Raul im Haus Nummer 6 zeigt auf einen weißen Zettel beim Eingang. Darauf kündigt die Polizei den Beginn von Renovierungsarbeiten an: "Meine Damen und Herren, wir bitten Sie, Ihre Vorbereitungen zu treffen, um die Örtlichkeit bis zur angegebenen Zeit zu räumen. Wir stehen Ihnen für weitere Informationen zur Verfügung." Unterzeichnet mit: "Die Squatter-Dienststelle der Kantonspolizei".

Diese Squatter-Equipe ist eine Genfer Institution: Seit neun Jahren kümmern sich drei Polizeibeamte ausschließlich um Hausbesetzer. Die kennen das Beamten-Trio. "Manchmal informieren uns die Squatter sogar, wenn sie ein neues Gebäude besetzt haben", sagt einer der Beamten. Er ist muskulös wie ein Bauarbeiter, trägt eine Safari-Weste und Jeans. So geht er seiner Arbeit nach, identifiziert die Squatter nach einer Besetzung und benachrichtigt den Hauseigentümer. Der Squatter-Experte tritt nur als Berater auf, er verhaftet nicht. Er will Vertrauensperson sein; seinen Namen will er nicht in der Zeitung sehen. Gemessen an Genfs Einwohnerschaft von 172 000 Menschen ist die Zahl der illegalen Hausbewohner riesig. "Genf ist die Weltkapitale der Hausbesetzer", sagt der 36jährige Beamte im Scherz.

Diesen Status hat die UN-Stadt indirekt einigen Finanzhaien zu verdanken. Vor allem in den achtziger Jahren wütete ungebremste Immobilienspekulation. Die Mieten schnellten in die Höhe, während viele Gebäude als Spekulationsobjekte leerstanden. Zugleich herrschte Wohnungsnot û die typische Ausgangslage also. Da begannen junge Genfer, leere Häuser zu besetzen. Irgendwann gab es die Polizei auf, zu räumen, weil sie gleich wieder besetzt wurden. "Es kann nicht unsere Aufgabe sein, leerstehende Häuser zu bewachen", sagt Eric Grandjean, Sprecher der Polizei. Die Behörden mußten andere Wege finden. Zwischenzeitlich hatten die Besetzer Unterstützung vor allem bei linken Politikern, aber auch in der Bevölkerung gefunden.

Nach stürmischen Auseinandersetzungen zwischen Behörden, Eigentümern und Besetzern gelten Spielregeln, die der Generalstaatsanwalt des Kantons Genf festgelegt hat: Die Behörden dulden nur die Besetzung von leeren Wohnhäusern. Einzelne Wohnungen sowie Geschäfts- und Gewerberäume dürfen nicht besetzt werden. Verlangt der Eigentümer eine Räumung, muß er nachweisen, daß er den Wohnraum nutzen, renovieren oder den Grund neu bebauen wird. Der Generalstaatsanwalt kontrolliert, ob der Eigentümer das Haus nicht wieder leer läßt. Bislang funktionieren diese Regeln. So hätten in einem Jahr, sagt der für Squatter zuständige Polizeibeamte, die Besetzer 118 von 120 "Squats" freiwillig geräumt. "Wichtig ist, daß es ruhig verläuft, auch wenn das Gesetz nicht bis auf den letzten Buchstaben befolgt wird."

Solange der Eigentümer nicht renoviert, dürfen die Besetzer bleiben: 70 junge Leute wohnen im Genfer Haus "Le Rhino" Genfs berühmteste Hausbesetzung nennt sich "Le Rhino". In drei großen, mehr als 100 Jahre alten Gebäuden leben rund 70 junge Leute. Ein Transparent hängt an der Fassade des Hauses am Boulevard des Philosophes Nummer 24. An der Ecke ragt das Wahrzeichen in den Himmel: ein rotes Rhinozeros-Horn. "Le Rhino ist fast ein kleines Dorf", sagt die 23jährige Uunax. In dem Jahrzehnt, seitdem es "Le Rhino" gibt, hat es sich mit seinem Theater, dem Musikkeller und dem Bistro zu einem Alternativen-Treffpunkt entwickelt. In den herrschaftlichen Zimmern wohnen vor allem Studenten, Künstler, viele Ausländer, auch Familien mit Kleinkindern. Die Besetzer haben sich in einem Verein organisiert, sie zahlen monatlich 70 Franken in einen Fonds für Renovierungen und Anwaltshonorare. Sie bezahlen Strom und Wasser, mit denen die Stadtverwaltung "Squats" beliefert û ob das Geld hereinkommt oder nicht.

 Keine Proteste mehr

Die Besetzer-Szene gliedert sich in Gruppen, die sich nicht vermischen: Punks, Anarchisten, Öko-Fundis, Alt-Hippies, Rasta-Fans, Intellektuelle oder Lebenskünstler. Derzeit ist die Villa auf dem Land gesucht û oder ein Stadthaus mit Garten. Aber Beamte mußten schon Squats von einer Rattenplage befreien, und manchmal gibt es Probleme mit Drogensüchtigen. Daß einige Besetzer auf Kosten der Stadt leben, erbost immer wieder Genfer Steuerzahler. Auch Wirte regen sich auf, weil die "Squats" mit illegalen Kneipen eine Schattenwirtschaft aufziehen. Politiker machten Vorstöße im Parlament, doch weil es keine bessere Lösung für die Hausbesetzungen zu geben scheint, verstummten die Proteste rasch. Für die Behörden, sagt die Besetzerin Valeria, lösten "Squats" wie "Le Rhino" viele Probleme, indem sie potentielle Spannungen lösten und ein soziales Netz für Randgruppen böten. "Doch dadurch hat es die Stadt versäumt, eine Wohnungspolitik zu entwickeln", sagt sie.

Was dem Squatter-Experten der Polizei Sorgen macht, ist die zunehmende Zahl von 13 bis 17 Jahre alten Jugendlichen, die ihre Ausbildung abbrechen und sich in der Hausbesetzer-Szene niederlassen. Und es gibt Konflikte mit "Squatter- Touristen", etwa aus französischen Vorstädten mit gewalttätigem Klima, oder aus anderen Schweizer Gegenden. "Die glauben, in Genf ist alles erlaubt", sagt der Beamte.

Bernadette Calonego, SZ vom 02.02.1999


zurück zur Hauptseite