Neuigkeiten über Wagenburgen |
Hier endlich mal etwas über eine der Wagenburgen in Berlin:
Im April 1991 siedelten sich acht Menschen, die in ausgebauten Zirkus- und Bauwagen wohnten, auf dem ehemaligen Grenzstreifen am Schlesischen Busch in Treptow an. Innerhalb eines Jahres wuchs die Gruppe auf 17 Leute im Alter von zwei bis 50 Jahren. Anfang 1992 wurde mit dem Bau eines Parks auf dem Stellplatz des Dorfes begonnen. Nach einem Gespräch mit Vertretern des Bezirksamts verlagerten die BewohnerInnen das Wagendorf ein paar hundert Meter weiter auf einen brachliegenden Teil des Grenzstreifens an der Lohmühlenstraße. Fortan trug es den Namen Lohmühle.
Was ist ein Wagendorf? |
Bei der Gründung des Wagendorfes standen zwei Dinge im Vordergrund: dem größtenteils anonymen Leben in den großstädtischen Mietskasernen zu entfliehen und in einer Gemeinschaft gegenseitiger Hilfe den sich verschlechternden sozialen Rahmenbedingungen etwas entgegenzusetzen. Der - aufgrund der spartanischen Lebensweise - bewußtere Umgang mit natürlichen Ressourcen - bot einen weiteren Anreiz für das Leben im Wagen. Wichtig erschien es den BewohnerInnen auch, einen Raum zum Ausleben ihrer Kreativität zu haben, kulturelle Veranstaltungen wie Musikkonzerte, Open- Air-Kino, Theater und Varieté durchführen zu können; alles in einer Großfamilie, in der jeder mit anpackte. Für die Familien stand wiederum im Vordergrund, daß die Kinder mehrere Bezugspersonen hatten und die Eltern damit entlastet wurden. Um eine funktionierende Selbstverwaltung des Platzes zu gewährleisten, beschloß die Gruppe, eine bestimmte Einwohnerzahl nicht zu überschreiten. Heute leben im Wagendorf Lohmühle etwa 25 Menschen. Einmal in der Woche versammeln sich die BewohnerInnen, um alle Belange des Platzes zu besprechen und Entscheidungen in demokratischen Abstimmungen zu treffen. Großer Wert wurde auf ein "gutes Mischungsverhältnis" innerhalb der Gruppe gelegt. Das Wagendorf sollte auch bewußt "problematischen" Menschen die Möglichkeit geben, wieder ein Obdach zu haben. Dabei wurde jedoch die Erfahrung gemacht, daß gerade bei Menschen, die lange Zeit vereinsamt gelebt hatten, das Leben in einer Großfamilie eine enorme Anziehungskraft besaß und dadurch die zunächst befürchteten Probleme, sich in die Regeln der Gruppe einzufügen, schnell schwanden. Wenn nötig gaben die Bewohnerinnen Hilfe bei Behördengängen. Kurzfristige finanzielle Engpässe wurden durch zinslose Kredite aus der Platzkasse überbrückt, in die jedes Dorfmitglied je nach Einkommen einen monatlichen Betrag einzahlt. Ein Wagen wurde zur Verfügung gestellt. Ziel der Gruppe ist, ein hohes Maß an gemeinschaftlichem Leben und an Individualität zu gewährleisten. Es gibt keinen Zwang, sich an den gemeinsamen Aktivitäten (z.B. Kochen, Musikveranstaltungen) zu beteiligen. Nur bei den Dingen, an denen ein allgemeines Interesse bestand (Winterholzbeschaffung, Aufräumaktionen etc.) sind alle verpflichtet, mit Hand anzulegen. In der Praxis wird jedoch fast alles gemeinsam gemacht. Die Rangierfähigkeit der Wagen bietet die Möglichkeit, direkte Nachbarschaften nach den Bedürfnissen der BewohnerInnen jederzeit zu verändern. In der einen Ecke können etwas ruhigere Menschen zusammen stehen, in einer anderen etwas lebhaftere.
Der Wagen |
Er ist aus Holz oder Preßpappe, 3,50 Meter breit und 8 oder 12 Meter lang. Die Wände und der Fußboden sind isoliert. Im Winter garantiert ein Holzofen mollige Wärme. Ein Gaskocher, ein Tisch, eine Kochecke mit Spüle und Arbeitsflächen, ein Hochbett, eine Sitzecke und ein Kleiderschrank oder Regal komplettieren die Ausstattung. Einfach, aber völlig ausreichend. Die Energiegewinnung erfolgt größtenteils über Sonnenkollektoren, die Autobatterien aufladen. Der Stromverbrauch ist gering. Die gängige elektrische Ausstattung besteht aus einem Autoradio/Kassettenrecorder, einer Lampe, einem Fernseher und eventuell noch einer Kühltasche - alles für 12 Volt Spannung. Auch der Wasserverbrauch beschränkt sich auf das Notwendigste, schließlich wird das kostbare Naß in Kanistern geholt. Im Sommer kann eine Platzdusche benutzt werden.
Der Platz |
Beim Umzug 1992 wurden die Wagen in einem rechteckigen Verband angeordnet. Nach außen hin bieten sie so einen Sichtschutz, nach innen begrenzen sie einen 6000 m² großen Platz, der allen zur Verfügung steht. Dort spielt sich das hauptsächliche Leben ab. Zwischen den Wagen sind größere Lücken. Im ersten Jahr glich der Platz bei Regen einem Schlammloch, bei Trockenheit einer Staubwüste. Die BewohnerInnen bepflanzten und begrünten den Platz mit 30 Bäumen, vielen Sträuchern, Blumen, einem Weizenfeld , einer Wiese und Nutzpflanzen. Zur Bewässerung wurde eine alte Feuerwehrpumpe mit mehreren Schläuchen gekauft. Eine Komposttoilette, kleinere Pflanzenkläranlagen, ein Komposthaufen, eine Sommerdusche, ein kleiner Teich, ein Kinderspielplatz mit großer Gondelschaukel, Wippe und Sandkasten bereichern die Infrastruktur. Der größte Wagen wurde zum Gemeinschaftswagen ausgebaut, eine Bühne errichtet. Zur Zeit ist eine Kompostieranlage für Papier und Pappe in Bau. Der Platz macht einen großen Teil des Lebensgefühls der BerwohnerInnen aus. Man sitzt zusammen, trifft sich zum Essen, redet miteinander, dort können sich die Kinder austoben, die Künstler unter den BewohnerInnen bauen ihre Skulpturen, die Musiker machen ihre Musik. Die von der Arbeit kommen, trinken dort ihr Feierabendbier. Dort wird auch miteinander gestritten, dort kommen die alltäglichen Probleme auf den Tisch, wird nach Lösungen gesucht. 1997 gründeten die BewohnerInnen den Verein "KulturBanausen e.V.", der sich zum Ziel gesetzt hat, künstlerische und kulturelle Eigeninitiativen von Jugendlichen und Erwachsenen zu fördern. Für die Sommerferien ist ein Programm aufgestellt worden, das eine Zusammenarbeit zwischen Berliner Künstlern und Kindern aus dem Kiez anbietet. Bei der Realisierung erfährt das Wagendorf viel Unterstützung durch andere Vereine und Künstler. Die Aktivitäten für die Kinder sind kostenlos.
Die Anwohner |
Auf einer Seite des Wagendorfes stehen Wohnhäuser, und anfangs waren die Anwohner wenig erfreut über die Ansiedlung. Zu ungewohnt erschien ihnen diese Art des Wohnens. Ängste machten sich breit - vor permanenter Lärmbelästigung oder davor, des Nachts ausgeraubt zu werden. Je länger jedoch das Wagendorf stand, umso mehr es sich organisierte und begrünte und je mehr persönliche Gespräche zwischen Anwohnern und Wagenbewohnern stattfanden, desto größer wurde die Akzeptanz. Rückblickend läßt sich sagen, man hätte frühzeitiger aufeinander zugehen, Störungen sofort bereden und gemeinsame Lösungen finden sollen. Mittlerweile lädt man die WagenbewohnerInnen auch zum Bürgertreffen ein, und schon 4000 Menschen, größtenteils aus dem Kiez, unterschrieben für den Erhalt des Wagendorfes.
Die Zukunft |
Die Wagendörfler würden das Gelände, das sie momentan nutzen, gern pachten. Die ständigen Räumungsdrohungen lähmen die weitere Entwicklung. Ohne Rechtssicherheit können keine Investitionen getätigt werden. Die Angst, alles zu verlieren, was bisher aufgebaut wurde, ist groß. Die Menschen unter uns, die noch weitere Stabilisierung benötigen, sind auf die Gruppe angewiesen. Der Senatsbeschluß, alle Wagendörfer in Berlin räumen zu lassen, ist für die BewohnerInnen unbegreiflich. Obdachlosenasyle oder Einzelwohnungen können sie sich nicht als Alternative vorstellen. Sie fragen sich, weshalb es nicht möglich ist, ihre Wohnform in legale Bahnen zu leiten. Ein Konzept zur weiteren Nutzung des jetzigen Geländes liegt dem Bezirksamt vor. Es bleibt zu hoffen, daß das Bezirksamt den Sinn dieser Art zu leben erkennt.
Wagendorf Lohmühle KulturBanausen e.V