Erneut Anschlag gegen ein Kaufhaus |
Sonntägliche Ruhe herrschte gestern vor dem Hertie-Kaufhaus am Halleschen Tor in Kreuzberg. Spaziergänger genossen die warmen Sonnenstrahlen, die Imbißbuden und Blumenläden hatten ihre Läden geschlossen. Nur zwei Kinder boten auf einer ausgebreiteten Decke alte Comics und Plastikfiguren zum Verkauf an.
Daß hier in der Nacht zu Sonntag Steine in Schaufensterscheiben landeten, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Erst beim näheren Hinschauen sind die meterlangen Risse und faustgroßen Löcher in den Scheiben des Kaufhauses Hertie zu erkennen. Frische Klebestreifen und Glasflicken halten die Schaufenster zusammen, hinter denen Glassplitter zwischen Damenstrumpfhosen und Kosmetikartikeln liegen.
Insgesamt 39 Schaufenster gingen bei dem Anschlag auf das Kaufhaus zu Bruch. Die Polizei spricht von fünf bis sechs Personen, die kurz nach Mitternacht die Scheiben des Hauses am Blücherplatz mit Pflastersteinen zertrümmerten. Auch mehrere in der Nähe aufgestellte Telefonzellen waren Ziel des Anschlags und wurden von den unbekannten Tätern zerstört. Von den Steinewerfern fehlt bis jetzt jede Spur, teilte ein Polizeisprecher mit. Ein Bekennerschreiben zu dem Anschlag liegt bisher nicht vor. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen.
Erst vor zwei Wochen war bei einem ähnlichen Anschlag ein Kaiser's-Supermarkt in Prenzlauer Berg total zerstört worden. Im Anschluß an ein Straßenfest zur deutschen Wiedervereinigung auf dem Teutoburger Platz hatten etwa dreißig bis vierzig Personen die ehemalige Kaufhalle in Brand gesteckt. Sieben, als Barrikaden genutzte Autos, brannten ebenfalls völlig aus. Weitere Fahrzeuge waren beschädigt worden. Es entstand ein Sachschaden in Millionenhöhe. Auch hier konnten die Täter vor dem Eintreffen der Polizei unerkannt entkommen.
Autonome Gruppen bekannten sich zu dem professionell geplanten Brandanschlag. Die Aktion, so hieß es in einem Bekennerschreiben, sehe man als Warnung an die Tengelmann-Gruppe (u.a. Kaiser's, Plus), die sich an einem von der Gesundheitsverwaltung und der Sorat GmbH geplanten Warengutschein-Abrechnungssystem beteiligen will. Dieses System soll alle 32.000 in Berlin lebenden Flüchtlinge zwingen, nur in bestimmten Geschäften einzukaufen. Zwei von der Sorat GmbH betriebene Magazinläden, in denen schon 2.300 Asylbewerber einkaufen mußten, waren unter anderem wegen überhöhter Preise in die Kritik geraten waren.
Ob der Anschlag auf das Hertie- Kaufhaus in direktem Zusammenhang mit dem Brandanschlag auf die Kaiser's-Filiale steht, ist offen. Hertie, das dem Karstadt-Unternehmen untersteht, unterhält keinerlei Beziehungen zu der Tengelmann-Gruppe.
Auch ist nicht bekannt, daß sich Hertie und Karstadt an den Gesprächen zur Einführung des Gutscheinsystems beteiligt haben. Eine Stellungnahme des Kaufhauskonzerns war am Wochenende nicht zu erhalten.
Alexander Eschment
TAZ-BERLIN 20.10.1997 Seite 21