Tumult auf dem Dorfplatz |
Gleich um die Ecke des Dorfplatzes liegt die Rigaer 94, ein von Verrückten bewohntes Haus, die immer noch daran glauben, dass es möglich ist, zusammen zu leben, zu wohnen, zu feiern, Politik zu machen, sich die Waschmaschinen, Kühlschränke und Bäder zu teilen. Damit sind sie natürlich ein Dorn im Auge der Stadtentwickler, die eine ganz andere Vorstellung vom Leben in unserem Dorf haben. Ihrer Meinung nach sollten hier doch eher Einzimmer- und Eigentumswohnungen entstehen, in denen jede und jeder für sich sein/ihr Dasein fristet, so dass solidarische Strukturen unmöglich gemacht werden, da sich alle in ihre eigenen vier Wände und in eine vom Fernsehen geschaffene Scheinwelt zurückziehen.
Vor nicht allzu langer Zeit saßen wir noch in unserer Dorftaverne, und es floss Cerveza in rauhen Mengen, irgendwer schlachtete ein Wildschwein, eine andere hinderte den Barden an Singen, als plötzlich die Tür aufflog und eine ganze Kohorte Römer im Raum stand und unserem fröhlichen Treiben ein kurzzeitiges Ende setzte. Auch am nächsten Tage sollte sich diese Szenerie wiederholen, und am nächsten und am übernächsten... Es wurde dennoch weiter gefeiert, bis eines Morgens erneut Römer und Bewag in der Taverne standen und den Strom abstellten (diese Aktion wurde vom WDR gefilmt und lief auf der ARD unter dem Titel "Das Stromkabel aus dem Abflussrohr") und eines Tages die Fenster und Türen dichtmachten.
Und was steckt dahinter? |
Die Rigaer Strasse 94 steht zusammen mit anderen Häusern seit 10 Jahren für den Versuch, selbstbestimmt und herrschaftsfrei zusammen zu leben. Sie wurde im Sommer 1990 während der Besetzungswelle im Osten Berlins besetzt, als vor allem Menschen aus dem Westen den hohen Leerstand und das Machtvakuum im Osten der Stadt nutzten, um vor der im Westen Deutschlands bereits stattfindenden Mietexplosion zu flüchten. Sie wollten der profitorientierten Wohnungspolitik einen Ansatz von unkommerziellen Wohn- und Lebenszusammenhängen entgegensetzen. Im Zuge der Vertragsverhandlungen zwischen einzelnen besetzten Häusern und Stadt wurden 1992 Verträge abgeschlossen. Seitdem existiert ein Rahmenmietvertrag mit der WBF (Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain) für die kollektiv genutzten Seitenflügel und Hinterhaus der Rigaer 94. In den nächsten zehn Jahren entwickelte sich hieraus ein Wohn- und Kulturprojekt. Es wurden Veranstaltungsräume (die Kadterschmiede) eröffnet, in der es regelmäßig politische Veranstaltungen, Konzerte, Parties und Vokü gab.
1998 wurde das Haus an die Jewish Claims Conference (JCC) rückübereignet, da die AlteigentümerInnen im Naziregime deportiert und ermordet wurden. Die JCC übernimmt bei rückübereigneten Häusern keine Verwaltungsaufgaben, sondern überträgt diese auf eine Hausverwaltung, in unserem Fall "Ute Skorzus" (Eichhorster Weg 80) und ließ über einen Makler das Haus zum Verkauf ausschreiben.
Im März 1999 begannen Verhandlungen mit einer KäuferInnengruppe, die das Haus in Kooperation mit den MieterInnen kaufen und sanieren wollte.
Dabei ging es um Erhaltung der bestehenden Wohnverhältnisse und Projekträume. Das Haus sollte sozialverträglich instandgesetzt und saniert werden. Vor Abschluss der Verhandlungen kaufte jedoch Uwe Ehmke das Haus. Daraufhin wurde versucht, die erarbeiteten Lösungen an ihn heranzutragen und das fast fertige Projekt doch noch erfolgreich zu Ende zu führen. Doch der neue Besitzer konnte vier Monate nicht erreicht werden, da er nicht auf unsere Briefe reagierte. Statt dessen kam es mehrfach zu Problemen durch die Hausverwaltung. So versuchte sie permanent dem Hausprojekt Räume streitig zu machen, die seit zehn Jahren bewohnt, genutzt und für die Miete gezahlt werden, indem sie mehrfach unter Polizeischutz in die Räume des Hausprojekts einbrechen ließ. Dabei wurden die Fenster der Kadterschmiede zugemauert und deren Türen verschweißt.
Zwischenzeitlicher Höhepunkt dieser Aktionen war, als am 24. April 2000 Hausverwaltung und Polizei einen Durchsuchungsbefehl für eine Wohnung nutzten, um sich Zutritt zum gesamten Haus zu verschaffen, alles zu durchsuchen, die Personalien aller Anwesenden festzustellen und versuchten, mehrere Wohnungen zu räumen. (Nochmal vielen Dank an die Umzugsfirma, die sich weigerte, unsere Sachen abzutransportieren!) Abgebrochen wurde der Einsatz, als selbst dem Einsatzleiter klar wurde, dass die polizeilichen Kompetenzen damit maßlos überschritten wurden.
Währenddessen wurden sämtliche noch offenen Fenster der Kadterschmiede von der Firma "di & da" (Wisbyer Str. 13 II) zugemauert. Diesen Einsatz sehen wir eindeutig im Zusammenhang mit anderen Einschüchterungsversuchen im Vorfeld des 1. Mai.
Die letzte Aktion gegen die Rigaer 94 fand am 14. Juni 2000 statt, bei der die Hausverwaltung die Erdgeschossräume (mal wieder unter Polizeischutz) leerräumen ließ. Bei dieser GElegenheit klauten sie auch gleich ein Auto und ein Moped vom Hof und verschrotteten diese.
Die komplette Einrichtung der Kadterschmiede wurde in einen Container geworfen, und nur dank einiger UnterstützerInnen konnte ein Teil gerettet werden. Drei Wohnungen im Vorderhaus, die nicht Teil des Projektes sind, wurden zugemacht.
Alternativen zur Leistungsgesellschaft werden systematisch kriminalisiert
In den letzten zehn Jahren haben sich die Befürchtungen bewahrheitet, dass sich die Mieten in den Ostbezirken drastisch verteuern werden.
Für Einraumwohnungen sind Mieten zwischen drei- und fünfhundert Mark üblich geworden. Mittlerweile wurden aus den meisten Wohnungen Einraum- oder Eigentumswohnungen geschaffen. Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen werden dadurch zwangsläufig aus ihren Wohnungen verdrängt.
Persönliches Eigentum wird als höchstes aller Güter definiert und solidarische Strukturen, in denen Menschen sich z.B. einen Waschmaschine oder einen Fernseher teilen, weil sie sich keinen eigenen, privaten leisten können oder wollen, werden durch den wachsenden Konsum- und Konkurrenzdruck als unnormal definiert.
Zusammenhänge, in denen diese solidarischen Strukturen und in denen ein herrschafts- und unterdrückungsfreies Leben zu praktizieren versucht wird (wie z.B. die zahlreichen (ex-)besetzten Häuser), wurden im Zuge der werdenden Hauptstadt unter dem damaligen Innensenator Ex-General Schönbohm systematisch zerstört, sämtliche besetzte Häuser geräumt.
Unter dem Motto "Berliner Republik" etablierte sich eine Gesellschaftsordnung, in der Leistung für das deutsche Gemeinwohl die oberste Priorität eines deutschen Staatsbürgers zu sein hat. Der Anschluss der DDR war eine willkommene Gelegenheit, einen Schlußstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen und zur deutschen "Normalität" zurückzukehren.
So manifestierte sich in den zahlreichen rassistischen Übergriffen immer deutlicher der völkische Grundkonsens der deutschen Bevölkerung, da die "Ausländer ja unsere Arbeitsplätze wegnähmen und daher in unserem Land nichts zu suchen hätten". Staatlicher und gesellschaftlicher "Antifaschismus" beschränkt sich einzig und allein darauf aufzuschreien, wenn faschistische Morde das Ansehen Deutschlands im Ausland beschädigen und somit den Wirtschaftsstandort bzw. das demokratische Image gefährden könnten. Ansonsten gehören rassistische Übergriffe mittlerweile zum deutschen Alltag.
Wer dem Verwertungsschema widerspricht, wird mit dem Argument der "Gefährdung der Inneren Sicherheit" bekämpft. Unter dem Motto "Innere Sicherheit" werden immer mehr individuelle Freiheitsrechte eingeschränkt; öffentliche Plätze werden privatisiert und in Konsumzonen umgewandelt (z.B Potsdamer Platz, Ringcenter). Wer nicht den Anschein erweckt, über ausreichende Mittel zu verfügen, konsumieren zu können oder zu wollen, wird aus diesen Räumen entfernt. Wer aus dem herrschenden Verwertungssystem herausfällt, wird zur Bedrohung erhoben und mit dieser Begründung bekämpft. Aus dieser Logik ergibt sich, dass unter dem Stichwort "Innere Sicherheit" unkommerzielle Ansätze bekämpft und kriminalisiert werden, da sie Alternativen zu diesem System aufzeigen und es damit in Frage stellen.
In diesem Zusammenhang stehen auch die besetzten Häuser, die aufgezeigt haben, dass es möglich ist, jenseits dieser Leistungsgesellschaft eine funktionierende unkommerzielle Infrastruktur aufzubauen, in der ein gleichberechtigtes Miteinander möglich ist.
Es ist notwendig, selbstbestimmte Freiräume aufzubauen, um zu verhindern, dass sich weiterhin eine Gesellschaftsordnung etabliert, in der sich nur Menschen sicher bewegen können, die weiß, männlich und/oder leistungsstark sind.
Es ist genug Platz für alle da. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie, wo und wann wir uns zu bewegen haben.
Für ein selbstbestimmtes Leben!
Autonome Freiräume schaffen - Kadterschmieden aufbauen!
Hände weg von der Rigaer 94!
[squat!net]