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Nach der Straßenschlacht sah die Mainzer Straße aus wie ein Trümmerfeld. Und auch sonst war vieles nicht mehr wie vorher. Die Grünen ließen die Koalition mit SPD-Bürgermeister Walter Momper platzen, der für die Räumung verantwortlich zeichnete. Und die Ossis wussten endlich, was sie sich mit der Wende eingehandelt hatten. »Westpolizei probte in Ostberlin den Bürgerkrieg«, titelte das Neue Deutschland. Und in der Tat waren mit diesem martialischen Auftritt, einem der ersten Einsätze der West-Polizei in Ostberlin, nicht nur die Autonomen gemeint. Es sollte auch ein Signal an die ehemalige DDR-Bevölkerung sein - eine Drohung.
Trotzdem war die Solidarität der Nachbarn in den folgenden Monaten enorm. Die Geld- und Kleiderspenden, die besorgten Nachfragen, auch der Medienrummel ließen über Monate nicht nach.
Doch was ist geblieben? Ist es nicht merkwürdig, dass fast jedes Ereignis inzwischen dazu benutzt wird, im nächsten Jahr eine Neuauflage zu inszenieren. Jubiläen, Jahrestage, jährliche Demos, Kundgebungen, Feiern - nur die Räumung der Mainzer Straße bleibt ausgenommen. Und das, obwohl es für die autonome Linke in Berlin wohl kaum ein vergleichbar wichtiges Datum gibt.
Es gab - man glaubt es kaum - nicht ein einziges größeres Nachbereitungstreffen derjenigen, die in der Mainzer gelebt oder gekämpft haben. Und Momper, der nach der Räumung mehrfach vermöbelt wurde, und dessen Wohnung jahrelang von der Polizei bewacht wurde, tritt inzwischen wieder völlig ungestört in der Öffentlichkeit auf, knuddelt mit Grünen oder PDSlern. Mainzer Straße? War da was?
Es gibt für dieses Phänomen nur eine Erklärung: Verdrängung. Viele, die diese Schlacht damals miterlebten, waren geradezu traumatisiert.
Ich traf Jahre später einen ehemaligen Mainzer-Bewohner, der mir völlig unvermittelt erzählte, er habe vorhin unter der Dusche an den 14. November 1990 gedacht und plötzlich angefangen zu heulen wie ein Schlosshund. Etliche hatten Todesangst, als die Polizei vorrückte. Für viele war diese Schlacht ein großer Einschnitt im Leben. So mancher hat danach seinen Job geschmissen oder sein Studium. Viele haben sich radikalisiert, andere zogen sich völlig zurück.
Heute geht man in der Mainzer Straße nur noch zwischendurch einen Falaffel essen oder in der Apotheke ein Päckchen Kondome kaufen. Schade eigentlich.
ivo bozic, 15. November 2000, Jungle World Ausgabe 47/2000