"Häuser könnt ihr räumen - Herzen nie"


Ein schwarzer Hund schaut aus dem Fenster im zweiten Stock. Der Fensterrahmen ist rot. Die Fassade des Hauses ist bunt von Graffiti. "Risikokapital" steht auf einem weißen Leintuch, das an der Hauswand befestigt ist. Im Durchgang zum Hof kleben Plakate. Sie werben für die Gegendemonstration zum Aufstand der Anständigen am 9. November, ein Konzert im Club Supamolly, eine Demonstration gegen Rassismus in Cottbus. Das Haus an der Kreutzigerstraße 19 in Friedrichshain ist vor zehn Jahren besetzt worden. Heute zahlen die Bewohner Miete an die Wohnungsbaugesellschaft. Dass es zu dieser Einigung kam, hat auch mit den Ereignissen eine Straße weiter zu tun.

  Flucht über den Friedhof

Dort, in der Mainzer Straße, gibt es keine bunten Fassaden mehr. Die Wände der Gründerzeithäuser sind pastellfarben renoviert. In den Blumenkästen auf den Balkonen wachsen Geranien und Astern. "Die Chaoten sind weg", sagt eine alte Frau, die 1992 in eines der einst besetzten Häuser gezogen ist. "Aber unsere Keller sind feucht, und die Leute werfen alles einfach auf die Straße." Die junge Frau aus Süddeutschland, die in der Mainzer Straße 4 wohnt, weiß nicht, wie lange das Graffito schon draußen an ihrer Hauswand steht: "Unsere Häuser könnt ihr räumen - unsere Herzen nie".

Die Mainzer Straße ist am 14. November vor zehn Jahren geräumt worden. Die Aktion geriet zu einem Straßenkampf, der drei Tage dauerte. 500 Besetzer gegen 3 000 Polizisten, Tränengas, Wasserwerfer, Barrikaden, Molotowcocktails und Pflastersteine. Am Ende waren elf besetzte Häuser leer, die Alternative Liste kündigte die Koalition mit der SPD auf. Und den Besetzern in den verschonten Häusern war klar, dass sie nur würden bleiben können, wenn sie künftig Miete bezahlen würden. Ein Problem war das aber höchstens für ein paar Kreuzberger Autonome. Den ostdeutschen und auch den meisten Westberliner Besetzern ging es eher um selbstbestimmtes Wohnen als um den ideologischen Kampf gegen das Privateigentum.

Die ehemaligen Besetzer der Kreutzigerstraße 23 haben ihr Haus schließlich sogar gekauft, nachdem es einem Alteigentümer zurückübertragen worden war. Gerade sind die Genossenschaftler dabei, es in Eigenarbeit zu renovieren. In dem verstaubten Hausflur hängt eine Tafel, auf der die nächsten Baumaßnahmen aufgelistet sind: Estrich legen, Löcher in Wänden und Decken schließen, Stahlträger entrosten und schleifen. Andreas Baier wohnt seit zehn Jahren hier. Er kann sich noch gut an den 14. November 1990 erinnern.

Zum Ende der Straßenschlacht seien viele Besetzer aus der Mainzer Straße über den Friedhof zwischen den beiden Straßenzügen in die Kreutzigerstraße geflohen, sagt er. "Die haben bei uns Unterschlupf gesucht." Die Bewohner der acht besetzten Häuser in der Kreutzigerstraße hätten sich sicher gefühlt. "Die Polizisten haben uns signalisiert, dass uns nichts passieren würde, wenn wir nicht selbst gewalttätig werden."

In den Häusern an der Mainzer Straße wohnten seit dem Sommer nach dem Mauerfall auch viele Kreuzberger Autonome, in der Kreutzigerstraße vor allem junge Leute aus Friedrichshain. "Wir hatten mit unseren Polizisten einen ganz guten Kontakt", sagt Andreas Baier, ein Pforzheimer, der im Sommer 1990 aus Kreuzberg nach Friedrichshain gezogen ist. Vor allem aber habe die Mainzer Straße einen anderen Anblick geboten als andere Straßen mit besetzten Häusern. Die Wände seien voller militanter oder ideologischer Parolen gewesen, aus den Fenstern hätten schwarz-rote Fahnen gehangen. "Das erinnerte schon stark an die Hafenstraße in Hamburg, und eine zweite Hafenstraße wollte man nicht."

Das Ende der zweiten Hausbesetzerwelle in Berlin nach dem Häuserkampf in Kreuzberg Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre war mit der Räumung der Mainzer Straße besiegelt.

Von einst mehr als 120 besetzten Häusern im Ostteil der Stadt ist das letzte offiziell besetzte Haus vor zwei Jahren geräumt worden: die Pfarrstraße 104 im Bezirk Lichtenberg. Das Bezirksamt war von dem Einsatz damals ebenso überrascht wie die zwanzig Hausbewohner. Die Räumung verlief friedlich. Es gab anschließend nicht einmal eine Protestdemonstration.

Susanne Lenz, 15. November 2000 Berliner Zeitung Berlin


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