Kraaken oder gehen


Eurotop VII: In Amsterdam gibt es fast so viele besetzte Häuser wie Brücken. Dem größten von ihnen, dem Entrepotdok, droht jetzt die Räumung. von ilja gerhardt, amsterdam

In den meisten westeuropäischen Städten gelten sie als Symbol ehemals bewegter Zeiten. Besetzte Häuser sind heute selbst in Berlin oder Zürich äußerst selten. Nicht so in Amsterdam. Hier gibt es nach wie vor rund 30 Gebäude dieser Art. Und wenn man einen Amsterdamer nach dem »wichtigsten« Haus der Stadt fragt, ist die Antwort klar: Das Entrepotdok, ein ehemaliges Lagerhaus im Osten Amsterdams, würde die Wahl haushoch gewinnen.

Das Areal, das auch als »Kalenderpanden« (Kalenderhaus) bezeichnet wird, ist seit Ende 1996 besetzt und wird von rund 15 Menschen bewohnt. Das Haus ist weit über die Landesgrenzen bekannt und mehr als ein einfaches Wohnhaus.

Dabei ist sicherlich die Größe des gesamten Komplexes entscheidend - auf 7 000 Quadratmetern sind die unterschiedlichsten Projekte integriert. So befinden sich im Haus unter anderem ein Kino, ein Konzertraum und eine Kneipe. Seit etwa zwei Monaten existiert ein Infocafé sowie ein Tauschladen im Erdgeschoss. Die zweite Etage wird als Veranstaltungsort für Gothik-, Queer- und andere Parties genutzt.

Aber nicht nur die Subkultur hat in den Kalenderpanden ihren Platz. So strahlt auch der Piratensender »Radio Patapoe« vom Entrepotdok auf 97,2 Mhz in den Amsterdamer Äther. Jeden Montag findet die Besetzer-Sprechstunde »Oost« im Entrepotdok statt. Dort können Besetzer und solche die es werden wollen, Informationen über leere Häuser und Wohnungen im Stadtteil Oost erhalten.

Und davon gibt es viele. Zwar werden heute nicht mehr so viele leer stehende Gebäude besetzt wie noch vor zehn oder 20 Jahren. In den besten Zeiten der Kraker-Bewegung gab es selbst in Kleinstädten oft mehrere besetzte Häuser. Seit Ende der achtziger Jahre hat die Bewegung jedoch, wie überall in Europa, deutlich an Dynamik verloren.

Dass es in Amsterdam heute immer noch verhältnismäßig viele besetzte Häuser gibt, liegt auch an einer Eigenheit der niederländischen Gesetzgebung. Danach ist eine Besetzung kein Hausfriedensbruch, wenn ein Gebäude vom Eigentümer länger als ein Jahr nicht genutzt wurde. Der Besitzer muss dann vor Gericht nachweisen, dass er den Leerstand aufheben will. Um eine »legale« Besetzung leer stehender Häuser oder Fabriketagen zu vermeiden, lassen viele Eigentümer so genannte »kraakwachten« mietfrei in den Spekulationsobjekten wohnen.

Diesen Nachweis für eine weitere Nutzung hat der Besitzer des Entrepotdok erfüllt. Insgesamt 47 Luxusapartements werden auf der Webseite des Immobilienmaklers Boer Hartog Hooft (BAM) zum Verkauf angeboten. Die seit Monaten steigenden Mindestpreise für die einzelnen Appartements haben mittlerweile 500 000 Euro erreicht. Bei einer jährlichen Preissteigerungsrate von etwa acht bis neun Prozent wird der Preis die Millionengrenze voraussichtlich noch vor der Fertigstellung im Jahre 2002 überschreiten.

Dem etwa 14 000 Quadratmeter großen Lagerhaus, von dem etwa die Hälfte besetzt ist, droht nun die Räumung. Ende August wurde vom Gerichtsvollzieher das Schreiben mit der Räumungsaufforderung an die Bewohner übergeben. Der Beschluss steht am Ende einer langen Kette von Gerichtsverfahren, die Besetzer und Denkmal-Initiativen um das Haus geführt haben.

Nach dem 2. Oktober ist die Polizei befugt, die Kalenderpanden zu räumen. Ab Freitag dieser Woche werden daher vom Entrepotdok ein Besetzerkongress und weitere Aktionen organisiert, die am Sonntag mit einer landesweiten Demonstration vorläufig abgeschlossen werden sollen.

In den letzten anderthalb Jahren wurden etwa 20 Prozesse um den Erhalt des Mitte des letzten Jahrhunderts erbauten Gebäudes geführt. Den Bewohnern des Entrepotdoks geht es dabei weniger um die juristische Klärung der Eigentumsfrage, sondern vielmehr um die künftige Stadtentwicklung Amsterdams. So ist auch »nit wijken vor den rijken« (nicht weichen vor den Reichen) der zentrale Slogan gegen die Räumung.

Inzwischen ist auch der Stadt Amsterdam aufgefallen, dass eine Räumung des Entrepotdoks eine unangenehme Lücke in die Subkultur Amsterdams schlagen könnte. Aus diesem Grund wurden rund 50 Millionen Euro dem Projekt »Broedplaatsen« (Brutstätten) zur Verfügung gestellt, um Künstler und subkulturelle Einrichtungen zu unterstützen. »Broedplaatsen« ist für die Bewohner des Entrepotdoks jedoch eine Augenwischerei. Einerseits verkauft die Stadt das Entrepotdok an die Immobilienfirma BAM, andererseits will sie die Subkultur finanzieren.

Dem Entrepotdok wurde im Rahmen des Broedplaatsen-Projekts eine Baracke außerhalb der Stadt angeboten, die erst in anderthalb Jahren fertiggestellt wird. Für die Bewohner ein indiskutables Angebot, da keine der Aktivitäten weitergeführt werden könnte und es ihnen grundsätzlich untersagt wurde, in der Ersatzimmobilie auch zu wohnen.

Der Kampf um den Erhalt des gemeinsamen Wohn- und Arbeitsraums hinterlässt auch bei den Bewohnern des Hauses Spuren: Schon jetzt ist sicher, dass die Gruppe in dieser Konstellation nicht wieder aktiv wird. Bei den seit Jahren steigenden Mieten, besonders im Stadtgebiet von Amsterdam, wird jedoch ein großer Teil der Bewohner weiterbesetzen müssen. Bei Monatsmieten von 800 Euro und mehr für ein einfaches Appartment auf dem freien Wohnungsmarkt und Wartezeiten von über acht Jahren für eine Sozialwohnung gibt es nur zwei Alternativen: Wegziehen oder Besetzen.

Weitere Informationen unter:
http://www.kalenderpanden.nl und http://squat.net

Jungle World, 40/ 2000


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