aus der Interim 399 vom 28.11. 1996
 Die Zeiten mutieren

und wir motivieren uns in ihnen

Good old times


Bei der Durchsicht der Interim Jahrgänge 90/91, erstaunt erstmal, wie sehr sich die Stimmung verändert hat. Obwohl damals schon viele frustriert waren, gab es noch ein Selbstvertrauen, etwas auf die Beine stellen zu können und einen Blick, auch wenn er sehr pessimistisch war, auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung. Die Ernennung Berlins zur Hauptstadt und die Olympiade galten als übermächtige Bedrohung, aber es gab noch einen Willen dies und das zu verhindern oder sich wenigstens heftig zu wehren. Allgemein wurde trotzdem erwartet, daß wir (das "Wir" ist ein wir, das total unbestimmt ist, das dich nicht meint, wenn du dich nicht meinst, dich aber meint, wenn du meinst) innerhalb kürzester Zeit vereinzelt an den Stadtrand verdrängt werden und alle Innenstadtbezirke von Konsum, Werbeagenturen und konformen, reichen Deutschen besetzt sind. Der Versuch von genaueren Analysen fehlt fast vollkommen.

 We want the world and we want it ...

Die Interim 1996 kennt ihr. Da mal eine Aktion und dort auch, aber eher mit dem Gefühl von trockener Pflicht und mächtiger Ohnmacht. Eher Rat und Ideenlosigkeit. Aber was tun?

Heute leben wir immer noch in Kreuzberg, Friedelhain, Prenzelberg und sogar in Mitte noch welche. (Es ist auch denkbar, daß es noch ein Weile so bleibt.) Die Olympiade 2000 findet nicht in Berlin statt, sie wurde hier vielleicht sogar verhindert. Der Umbau Berlins zur Hauptstadt ist auf der einen Seite rasant, monströs und faktisch. Auf der anderen Seite noch immer reine Spekulation. Läßt sich der Tiergartentunnel überhaupt bauen? Kann das Kanzleramt angefangen werden? Verzögert sich der Regierungsumzug um 5 oder 10 Jahre? Wie lange können sich leerstehende Büro und Ladenflächen geleistet werden? Wie schwer ist ein Ei auf einem Papstmobil? Zieht Berlin wirklich Geld an? Wer hat sich am Ende verspekuliert? Eine aktive Bevölkerung könnte durch energische Imagebeschmutzung ihren Teil dazu betragen, daß Profiterwartungen sich nicht erfüllen und das Leben erträglicher bleibt.

Aber der Regierungsumzug ist nur ein Teil im Projekt "Stadtumkrempeln", dem Versuch Berlin in der globalen, kapitalistischen Konkurrenz der Städte einen vorderen Platz zu verschaffen. Das ist von der Hauptstadt der DDR und der subventionierten Frontstadt Westberlin ein sehr weiter und ungewisser Weg. Und selbst wenn es an vielen anderen Orten auf der Welt den gleichen Versuch gibt, müssen die Bedingungen hier in dieser Stadt durchgesetzt werden und können dadurch auch genau hier bekämpft und verhindert werden.

 The future is unwritten.

Das Gefühl unserer eigenen Ohnmacht sollte uns nicht dazu verleiten, zu glauben, irgendwer hätte die Allmacht und könnte seine Pläne (wenn er denn welche hat) ohne weiteres durchsetzen. Es ist schon so, daß Sience Fiction Thriller immer vorstellbarer werden und es oft nicht viel Grund zum Optimismus gibt. Aber die Geschichte ist eben nicht zu Ende.

Weil die Zukunft noch ungeschrieben ist, bleiben ab hier vor allem Fragen.

Wie bewerten wir die Veränderungen?
Finden wir denn wirklich alles scheiße was jetzt abgeht und uns noch ins Haus steht? Die Autonomen waren (sind) ja Protagonisten von dem was wir heute Postfordismus schimpfen. Oh, wie haben wir abgekotzt über die fettärschigen Deutschen, die rundum versichert sich bemühten, ihr Leben möglichst früh so einzurichten, daß es dem/der Nachbarln gleicht und sich nichts mehr ändert bis zum Tod. Unser Lebenskonzept war Veränderlichkeit. Wechselhaftes Berufsleben, flexible Arbeitszeiten, ständiges Lembedürfnis, Verzicht auf die Rente, Pausen in der Erwerbsarbeit, Arbeit, auch für wenig Geld, sind Bedingungen, die sich die, die gearbeitet haben, schon in den 80zigern gesucht haben. Sollen wir jetzt das verteidigen was war?

Vor allem da wir an dem, was unter dem fordistischen Modell so alles als Errungenschaft gefeiert worden ist, unsere berechtigte Kritik gehabt haben. Die Wohnblocks mal abgesehen, ob wir sie persönlich nun schön oder ätzend finden waren darauf ausgerichtet, daß die Kleinfamilie darin wohnte. Im Idealfall ging Vatter arbeiten und brachte den Familienlohn mit nach Hause und Mutter zog zu Hause ein bis zwei Kinder groß in ökonomischer Abhängigkeit vom Mann. Dieses Modell ist ins Wanken geraten und nicht nur, weil sich irgendein Regime von sich aus so geändert hat, sondern weil vielmehr die Widerstände von Frauen gegen diese bestehenden Verhältnisse dazu beigetragen haben.

Dieser Zersetzungsprozess der Kleinfamilie, als eines der stärksten Repressionsorgane der bürgerlichen Gesellschaft, müßte eigentlich unseren Beifall finden. Leider gibt es aber keinerlei Entwicklungen zu anderen, zu kollektiven Strukturen. Die Atomisierung schreitet voran.

Die Differenzierung der Gesellschaft verringert die soziale Repression, wenn du ein unorthodoxes Leben führen willst. Auf der anderen Seite erschwert sie den Austausch und die Einigung über gemeinsame Interessen, um sich kollektiv gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu wehren.

 Wie verändern wir unsere Politik?

Können wir ein Denken entwickeln, das die Individualtät der einzelnen Menschen akzeptiert und trotzdem universelle Grundsätze und Forderungen hervorbringt? Dies ist nicht nur bezogen auf unsere Gesellschaft, sondern auch eine Frage nach einem neuen Internationalismus.

Können wir eine Sprache entwickeln, die viele verstehen und anspricht, und trotzdem Widersprüche und Ziele klar formuliert? Der Subkommandante rührt immer mein Kämpferherz, aber mein Politikerkopf fragt sich, was der eigentlich will. Vielleicht sollten wir auch eher eine künstlerische bzw. kulturelle Sprache suchen, wenn wir mit unserer verbalen nicht weiterkommen

Können wir uns Bündnisse vorstellen, in denen unterschiedliche Leute gemeinsam an gesellschaftlichen Veränderungen arbeiten und gleichzeitig ihre Widersprüche untereinander klar machen und sich darüber streiten? Reine Identitätspolitik führt wahrscheinlich zu abgetrennten Communities, die es dann sehr schwer haben zu kommunizieren. Die Abgrenzung der AntiDeutschen scheint die Umkehrung der Suche nach dem revolutionären Subjekt zu sein, die doch, so dachte ich jedenfalls, schon mal im Archiv gelandet war.

Können wir uns neuen politischen Ideen und neuen Politikformen öffnen und die Option auf Militanz und illegale Strukturen behalten? Wenn wir selbstbestimmte Politik betreiben wollen, brauchen wir auch illegale Strukturen. Leider rauchen sich im Moment viele, die so arbeiten, auf und hören auf. Wenn wir konkret und direkt eingreifen wollen, müssen wir militant vorgehen können Leider sind militante Aktionen immer weniger, eingebunden (eh nicht so häufig). Wie können wir dem mehr Energie einhauchen?

Wie werden wir mit dem sozialen Elend umgehen? Die einrnal weit verbreitete Auffassung "wir bekämpfen das System und lassen uns durch die Arbeit an den Symptomen nicht die Kraft rauben" ist, zumindest was die Flüchtlingsarbeit angeht, schon lange passe: Werden Projekte wie "food not bombs" in den USA auch hier immer wichtiger? Kann solch eine Arbeit als politische Basisarbeit wirken und Strukturen aufbauen, die sich wehren oder bleibt sie zwangsläufig humanistisch karitativ?

 Wo sind konkret Ansatzmöglichkeiten? Casa y libertad

Besetzte Häuser und Wagenburgen durchbrechen die kapitalistische Logik, sie stellen Forderungen nach gesellschaftlichen Aufgaben und sind ein Versuch kollektive Strukturen zu schaffen. Eigentlich supergute Politik. Die "Linke" täte verdammt gut daran, den Kampf um die übrig gebliebenen und um neue Häuser und Wagenburgen zu intensivieren.

 Palast der Republik als Symbol

Wem überlassen wir die Stadt? Das meint auch die City und seien es nur Symbole in der City, aber Politik wird oft mit Symbolen gemacht. Es ist einfach ein total anderer Ausdruck, ob das preußische Schloß wieder aufgebaut wird oder ob der Palast der Republik als öffentliches Kultur und Veranstaltungszentrum stehen bleibt.

 Hauptbahnhof: City goes to Friedelhain

Die Planung und die Umgestaltung des Bereichs um den Hauptbahnhof ist noch Planung. Nach vielen abgefahrenen Zügen könnte hier eine Auseinandersetzung um die Aufgabe von Stadt, als Raum fürs Geld oder als Raum für Menschen zum Leben, entstehen.


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