Dadas Enkel sind da


In der Badi Wollishofen dachten sie darüber nach. Bis nach Kalifornien und Berlin drang die Nachricht durch. Einer konnte im nördlichen Deutschland nicht mehr schlafen beim Gedanken, die Besetzung des legendären Café Voltaire zu verpassen. Auch für den Amerikaner ist das Café der berühmteste Ort in Zürich. Letzte Woche kam er hier an und war überrascht, anstatt einer Gedenkstätte einen «Shit-Club» anzutreffen. Seither hat er das Haus nicht mehr verlassen. Der aus Berlin übrigens auch nicht.

Am 2. Februar 2002 abends zog eine Gruppe von elegant gekleideten Menschen mit Musik zur Spiegelgasse Nummer 1 und brach das Schloss auf. Vor 86 Jahren gründeten im selben Haus Hugo Ball und Emmy Hennings das legendäre Café Voltaire. Von da aus breitete sich Dada aus. Nun wird Dada von einem KünstlerInnen-Kollektiv wiederbelebt. Mehr als ein Jahr stand das Haus leer. Die Polizisten, noch ganz in Aufregung wegen den Anti-Wef-Demonstrationen, waren sofort zur Stelle. Gummigeschosse und Wasserwerfer im Anschlag. Aber die glücklichen Polizisten bekamen von den charmanten Frauen und schönen Herren Champagner und Häppchen serviert. Die Räumung der Liegenschaft war vergessen.

«Vielleicht solltest DU DA ehren, statt leer zu stehen. Aber kannst DU DA denn kaufen und besitzen, was DA!» Dieser Ausschnitt aus dem Flyer, den die jun-gen KünstlerbesetzerInnen auf der Strasse verteilten, brachte uns auf die Idee, beim Immobilien-Fonds der Rentenanstalt anzurufen. Wir wollten wissen, ob sie nicht vorhätten, das Haus zur Verfügung zu stellen. Kultursponsoring wäre das. Und wie viel das Haus kosten würde.

Vielleicht will es jemand kaufen. Für Dada. Denn weiter steht auf dem Zettel: «Damals war? DA nicht im ANGEBOT, was da gefordert, immer noch nicht gefördert?» Herr Blanc vom Immobilien-Management der Livit will über die Liegenschaft an der Spiegelgasse 1 keine Auskunft geben. Doch plötzlich erfasst ihn Esprit, und es sprudelt aus ihm heraus. «Das sind keine typischen Hausbesetzer. Sie machen das Haus zwar kaputt, wie die gewöhnlichen Chaoten und Randalierer, aber sie sind Künstler.» Er meint zwar Hausbesetzen sei so illegal wie etwa Falschparken, und Busse müsse sein, aber Herr Blanc hat Dada entdeckt und betrachtet die Ereignisse als ein Highlight in seiner beruflichen Laufbahn. Auch bei der Polizei wird zwischen Vandalismus und Kunst unterschieden. Und eine Strafanzeige von der Rentenanstalt liege nicht vor, meint Herr Casanova vom Polizeidepartement. Genaueres weiss aber nur Polizeivorsteherin Esther Maurer, und die ist in den Ferien momentan.

Chaoten oder KünstlerInnen? Die Gruppe im Café Voltaire kann mit der Differenzierung nicht viel anfangen. Einige von ihnen schauen auf eine lange Geschichte von Besetzungen zurück. Wohlgroth, Glacé-Garten, Ego City. Andere sind zu jung, sind damals noch im Kindergarten gewesen. Auf die Frage, was denn zwischen der Besetzung der Wohlgroth und dem Café Voltaire an Veränderungen passiert sei, folgt Schweigen. «Die Musikrichtung hat sich vielleicht geändert. Punk und Rock müssen wir nicht mehr ausleben. Solche Konzerte wären für diesen Ort zu laut», meint schliesslich einer. So ist denn das Motto für das geplante Programm: «Sing dein Ding, bring dein Ding. Jedes Lied wird vorverstärkt. Jedes Wort wird verstärkt.» Quiet is the new loud? Ein Dada-Paradox zur Lärmproblematik.

Klar ist, dass es sowohl bei der wichtigsten Besetzung in Zürich seit dem AJZ in den Achtzigern, der Wohlgroth, wie auch dem Cafe Voltaire um die Eroberung von Terrain geht. In Zürich, mit seinen völlig überhöhten Bodenpreisen, kostenfreien Raum zu schaffen zum Wohnen und Arbeiten, als Voraussetzung für eine Kunstproduktion ausserhalb des Marktes. Einer aus dem Kollektiv: «Es ist der einzige Ort ohne Regeln, ich kann hier sein, ohne zu fragen und zu zahlen.» Vielleicht müssen sie in drei Wochen wieder raus.

Dann werden sie den Profit, der bis dahin erwirtschaftet wird, aus dem Fenster werfen. Das Geld aus dem Fenster – und die Anarchie in die Kunst. Sie sind keine bitteren Zyniker, nein, sie bezeichnen sich als Kyniker auf dem Weg zum Homo ludens, verspielte Provokateure, die die zähnefletschenden Immobilienhaie nur um eines bitten: «Geh mir aus der Sonne!»

Zwei Millionen zahlte die Rentenanstalt für das Haus. Das Kollektiv will nun, dass die Stadt das Haus kauft und zusätzlich jedes Jahr eine Million Franken bereitstellt für dadaistische Festspiele. Die erste Million soll auch aus dem Fenster geworfen werden. Die Nötli bekommt, wer gerade auf der Strasse vorbeigeht oder rechtzeitig von der Aktion erfährt. Eigentlich kann auch die Uno oder die EU das Haus kaufen. Das wäre besser, dann gäbe es die Million in Form von Euros. «Die andere wichtige Kunstbewegung aus Zürich, die Konkreten, haben ein eigenes Museum erhalten, warum nicht auch DADA?», fragt das Kollektiv. Aber: «DADAistische Manifeste in Glasvitrinen? Grauenhaft!» Mit solchen Paradoxen rumspielen ist eine Strategie der Voltaire-Leute, um sich von den Vermarktungsstrategien der Postmoderne abzugrenzen. Eine junge Dichterin meint dazu: «Hier kann ich meine Nonsense-Poetry ausleben. Hier. Ja, hier.»

Tristan Tzara und Marcel Janco kamen nach Zürich, um zu studieren. Vom Ersten Weltkrieg überrascht, konnten sie nicht in ihre Heimat Rumänien zurückreisen. Sie blieben und wurden zu wichtigen Exponenten der Gruppe Dada, die in Zürich zur Blüte kam. Heute hängt ein Plakat mit einem amerikanischen Soldaten am Haus an der Spiegelgasse. Daneben in blauen Buchstaben: «DADA GLOBAL!». Amerika kriegt, doch Dada siegt.

Währenddessen auf der Bühne: Mit scharfer Klinge zerschneidet ein junger Mann seine weissen Kleider, bis er nackt im Raum steht. Mit seinen in Farbe getauchten Füssen tappt er durch den Raum und hinterlässt weisse Spuren. Frauen tauchen auf. Ihre Köpfe sehen aus wie zu kurz geratene Gipsbeine. Scheinen blind und taub zu sein. Aber sie schreien aus ihren eingegipsten Köpfen heraus. Armando Rearte aus Argentinien, der von Anfang an die Ereignisse im und um das neu eröffnete Café Voltaire fotografisch dokumentiert, plant eine Walkmanperformance. Diese stille Tanzerei will er mit der Kamera festhalten. Für Rearte sind die aktuellen Ereignisse in Argentinien viel dadaistischer als das, was an der Spiegelgasse geschieht. Ein Remake, ohne Wirkung auf Gesellschaft und BürgerInnen, aber doch ein Ort geistiger Heimat. Ein anderer aus dem Kollektiv: «Es ist das Beste, was es in Zürich seit zehn Jahren gibt.»

4. März 1916. Das Cabaret Voltaire veranstaltet eine «Russische Soiree». Lenin wohnt zu dieser Zeit mit seiner Lebensgefährtin Nadeschda Krupskaja in der Spiegelgasse 14. Zwei von vielen EmigrantInnen. Hugo Ball erinnert sich an diesen russischen Abend: «Ein gutmütiger kleiner Herr, der schon beklatscht wurde, ehe er noch auf dem Podium stand, ein gewisser Herr Dolgaleff, brachte zwei Humoresken von Tschechow, dann sang er Volkslieder. (...) Eine fremde Dame liest ‘Jegoruschka von Turgenjew’ und Verse von Nekrassow.» Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die beiden Vortragenden in dem verrauchten, überquellenden Lokal Lenin und Krupskaja sind. Es wird geschrien, gelacht, getrunken. Die Anwesenden tanzen zu den rhythmischen Paukenschlägen. «Da! Da! Da! Da!», rufen die Russen, was in ihrer Sprache «Ja» bedeutet. Ja zur Musik. Ja zum Tanz. Ja zu Dada! Eines der ersten Kleinkindworte ist Dada und bedeutet: «Ich will.» Dada war auch der Name für ein Haarwasser. So erklärt es sich, warum Dada ausgerechnet in Zürich Erfolg hatte, der Stadt mit der grössten Apothekendichte Europas. Es erklärt auch, warum in die Liegenschaft Spiegelgasse 1 eine weitere Apotheke kommen soll. Das Kollektiv ist der Überzeugung, dass nach Schliessung des neu erwachten Cafés alle Nachbarn Prozac brauchen werden. Deswegen schlagen sie vor, die Apotheke gleich selber zu übernehmen.

Eine akustische Feng-Shui-Performance plant Martin Senn, Künstler und ehemals Besetzer und Betreiber des Kunsthauses Oerlikon. Für ihn ist Dada eine geliebte Grossmutter. Die Besetzung ihres Hauses sieht er als eine Verneigung: «Sie würde sich freuen über die Verehrung durch ihre EnkelInnen.» Darum betet die Gemeinde immer samstags um Mitternacht ein Mutterunser mit dem Pastor Leumund aus Berlin: «Unser in der Herde. Beleidigt wäre dein Harem. Kein Scheich komme. Keine Pille bestehe ...» Eine junge Frau: «Ich habe nicht viel gewusst und bin spontan gekommen, um es mir anzuschauen. Hier hat es Inspiration und ein Geheimnis.» Wie kann Kunst heute noch provozieren? Wie entsteht aus dem Willen zur Provokation der Skandal? Eigentlich ist das Café Voltaire ein stilles Projekt. Slam-Poetry, ein Buch vorlesen, ein Gespräch führen anstatt sich mit lauter Musik zudröhnen lassen. In harter Arbeit das Haus zum Gesamtkunstwerk machen. Sich dem Geld verweigern. Das sind die Strategien für den Widerstand. Das Quartier wollen sie wieder- beleben. Mit Nachbarn in Frieden leben. In grösseren Verbänden mit Kindern und alten Leuten hausen. Generationenübergreifendes Wohnen und Arbeiten. Und Fixkosten abschaffen! Einer sagt lakonisch: «Ich habe keine Wohnung, kein Atelier, darum bin ich da.»

«Keine Play Station. Hier gibt es eine Welt, die ich anfassen kann», sagt ein junger Mann. Draussen an der Fassade hängen Felix, Regula und Exuperanthius, als Unternehmer und Manager verkleidet. Im Arm die abgehauenen Köpfe. Wer es schafft, den Leuten diese Geschichte glaubhaft zu machen, lebt in einer Stadt, deren Bewohner sich auch von der Ideologie der Global Players narren lassen. Oder von Dada. Und wohin tragen die drei ihre Köpfe? In die Museen? Laut dem Kollektiv sollen die Museumsbestände verschenkt und die Häuser geschlossen werden. «Wenn jemand gerne einen Picasso hat, soll er doch einen mitnehmen. Wenn zwei denselben wollen, wird er entzweigeschnitten.» Kunst darf nichts kosten. Kunst ist Betrug. Stipendien und Subventionen werden trotzdem angenommen. «Niemand darf Kuchen verachten. Aber diese Hochkultur mit KünstlerInnen aus dem Ausland soll nicht subventioniert werden. Nein, nur wer DA lebt, kann auch DA intervenieren. Und das Opernhaus soll die grosse Bühne für alle aufmachen.» Ja, Herr Pereira. Das wäre doch was!

woz, Johanna Lier


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